Art is not the reflection of reality, it´s the reality of a reflection.

Inger-Kristina Wegener, 2024, Kappeln

Diese Worte passen in die Energie der Farben von Annette Selle. Was ich mit dem Begriff „andere Welten“ meine, bedarf der Erläuterung. Es geht in den Werken um das Sehen, dies sind keine Bilder linearer, plakativer Botschaften. Sie verlangen weniger eine intellektuelle Befassung mit ihrem Gegenstand, als ein Einlassen auf das Sehen und auf das, was das Sehen für den Menschen ist, und wie es das Verstehen, das Verstehen vor dem rationalen Prozess der Sprache, oder auch immer parallel dazu, prägt. Unsere Alltagsannahme über das Sehen geht vielleicht so: Mit unseren Augen nehmen wir eine endliche, in der Gegenwart erscheinende Menge dreidimensionaler Objekte wahr, ruhend oder bewegt. Was wir sehen, so meinen wir, was ist, und wo wir im Verhältnis zu diesen Objekten stehen.

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Dies ist eine verkürzte Form des Sehens, alltagstauglich, das uns über das mögliche Sehen so viel sagt, wie ein mit einem Finger auf dem Klavier gespieltes Kinderlied über die Möglichkeiten des Instrumentes. Ich fange an dieser Stelle nicht damit an, ob wir uns sicher sein können, dass diese Objekte im Raum überhaupt existieren. Ein Großteil der Bausteine, die ein Objekt machen, besteht aus Leere und elektromagnetischen Spannungen. Dies ist für einen anderen Tag. Aber wenn Sie ein Objekt über den Verlauf einiger Stunden oder eines Tages beobachten, werden Sie feststellen, dass es mit der Beschreibung seiner Farbe, seiner Position, mit Beweglichkeit und Ruhe, doch recht kompliziert aussieht. Allein die Farbe eines jeden Objektes Ihrer Umgebung ist in einem ständigen fließenden Wandel, das sanfte lichte Rot, das ein alltäglichen Objekt in Ihrer Küche am Morgen zeigen mag, leuchtet am Vormittag auf, wäscht Mittags aus, vertieft sich in den Nachmittagsstunden, spiegelt sich in der Dämmerung in seinen eigenen Schatten, bevor es am Abend zu einem stumpfen Braun, dann einem Grau wird, um vielleicht durch elektrisches Licht in einen ganz anderen Raum geweckt zu werden. Sie alle kennen den Augenblick kurz bevor Sie sich entscheiden, das Licht einzuschalten, nehmen diesen Wechsel wahr, der Ihnen einen kurzen schwindelhaften Augenblick die Illusion des Sehens vor Augen führt.
Dieser kurze Schwindel ist für das Auge der Malerin der Dauerzustand der Profession. Denn tatsächlich sehen Sie ja nicht „das Objekt“. Das Objekt ist das Ergebnis einer Leistung ihres Gehirns, einer Meisterleistung, die voraussetzt, dass Sie den Prozess des Sehens nicht beständig in Frage stellen, ebensowenig wie die illusionäre Permanenz des Tisches in Ihrem Esszimmer oder Ihrer eigenen Person. Dieser existentielle Schwindel, der vor und nach der Sicherheit des Objekts liegt, das ist der Raum der Kunst, von Thomas Tallis in der Musik über Luc Godard im Film über David Hockney zu Annette Selle in der bildenden Kunst. Unser Gehirn webt Annahmen aus Informationen, die unser Auge im sichtbaren Bereich des elektromagnetischen Spektrums an das Gehirn weiterleiten kann, einem kleinen Ausschnitt aus diesem Spektrum im Bereich von ca. 400 Nanometern bis zu 780 Nanometern. Diesen Bereich nennen wir Licht. Licht – eine elektromagnetische Welle – benötigt Zeit, sich auszubreiten. Das bedeutet, dass jeder Blick auf ein Objekt, ein Bild, einen Menschen, unwiderruflich ein Blick in die Vergangenheit ist. Das können wir uns eigentlich nur im großen Maßstab verdeutlichen.
Der Blick in unsere Milchstraße, die einen Durchmesser von 100.000 Lichtjahren hat, ist ein Blick, der 100.000 Jahre in die Vergangenheit geht. Vergleichsweise dazu ist der Blick in die Vergangenheit des leuchtenden Blaus in Annette Selles Bildern eine Reise in einer sehr viel kürzer zurückliegende Vergangenheit, kaum wahrnehmbar vielleicht, aber nicht weniger real. Es bleibt dabei: Alles, was uns von der Welt erreicht, ist ein Zeichen aus der Vergangenheit. Die Bilder, die uns hier heute umgeben, sind Lichtträger, Medium einer Vergangenheit noch in der Präsenz Ihrer direkten Anwesenheit vor dem Objekt. Wenn ich über die Bilder von Annette Selle spreche, dann spreche ich über Lichträume, über Farben, die nicht sind, bis Sie in Ihren Augen, in Ihrem Gehirn, wieder-entstehen. Bilder, die mit eben dieser Intention arbeiten, Lichtraum zu sein. Hier sind Sie als Betrachtende Spielball einer doppelten Reflexion.
Ich darf Sie noch auf eine kleine weitere naturwissenschaftliche Reise nehmen: Ihr Gehirn arbeitet mit der Annahme, dass Lichtstrahlen sich immer geradlinig ausbreiten. Aus diesem Grund erscheinen Gegenstände in der Reflexion eines Spiegels wie in einem eigenen Raum, auch wenn Sie – vor dem Spiegel oder der Schaufensterscheibe stehend – verstehen, dass das Licht tatsächlich von einer glatten Oberfläche zurückgeworfen wird. Sehen können Sie dies nicht. Diese Illusion können Sie mit Ihrem Wissen nicht auflösen, vor Ihren Augen steht das gespiegelte Objekt wenngleich seitenverkehrt doch ganz real „im Spiegel“. Zugleich unerreichbar. Aber Sie können sich diesen Effekt zunutze machen, wenn Sie ein Bild betrachten. Stellen Sie sich vor das Bild wie vor einen Spiegel , schließen Sie einen Augenblick Ihre Augen, öffnen Sie sie wieder, um nicht auf, sondern in das Bild zu blicken. das funktioniert, in diese Richtung können Sie Ihre Wahrnehmung tatsächlich führen, probieren Sie es aus. Und dann überzeugen Sie sich, dass Sie das, was Sie dort sehen, das ist, was aus dem aktuellen Raum, in dem Sie stehen, auf die Oberfläche des Bildes reflektiert wird.
Dann sind sie ganz nah am Geheimnis der Farbe und des Bildes. Dann sind Sie in der Gegenwart der „reality of reflection“, der Realität der Reflektion in der Gegenwart von der Godard spricht. Annette Selle erkundet – mit ihren eigenen Worten – eben dieses „tiefe Eintauchen in Textur und Farbe, die jeden Raum mit seiner Präsenz füllt, die Zugang zu einer mystischen Energie schafft und in einer Welt des Nachdenkens und der inneren Ruhe führt. Die Titel ihrer Arbeiten geben Hinweise auf diesen Aspekt des Lichtes, der Energie, des Geistes „Die Geister, die ich rief“ und „Engelsgleich“. Nach dem Johannes-Evangelium: Am Anfang war das Wort. In im war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Das alles sind leise, meisterhafte Zwischentöne, sehr wohltuend in einer Zeit, die nach großen, linearen Erklärungen strebt. Licht und Farben sprechen über eine stille, strahlende Beharrlichkeit einer fortwährenden Erkundung der Wahrnehmung, die Künstlerin und Betrachtende teilen. simple, quiet way to a life well lived, die Werke sprechen davon. Sie sind wunderschön, komplex und einfach zugleich. Ich wünsche Ihnen beim Gang durch diese ganz besondere Ausstellung die innere Stille und den Blick aus Ihrem vielleicht nicht mehr ganz so undurchlässigen, permanenten Raum in diese Bilderwelten. Und lassen Sie die Bilder sich in den Bildern reflektieren. Was geschieht, wenn Licht auf Licht trifft?

Joachim Pohl, 2014
Zuallererst sind Annette Selles Bilder Lobpreisungen der Malerei. Ihre Kompositionen leben von der Faszination wohl abgewogener und sensible angelegter Farbschichtungen. Das in Terpentinöl gebundene Pigment wird im aufgespannten Leinwandgeviert zu höchster Strahlkraft gesteigert.

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Aus Bedacht und im steten Verändern sich langsam aufbauenden krustigen Farbfeldern leuchten satte Gelbs und warme Orangetöne auf. Ungebrochenes Blau ertönt wie ein Glockenschlag und erfüllt den nächtlichen Raum. Der so formierte Farbakkord schwingt sich zum vollen Klang empor, rührt unsere Seelen an, senkt sich über die geheimnisvoll verschränkten und verstellten Bildwelten und nimmt uns mit hin an den unbekannten Ort des anderen Ichs. Es ist ein Eintauchen in die ganz persönliche Welt gefundener Raumwelten, Landschaften und imaginierter Interieurs: Bildgewordene Komprimate erlebter äußerer Wirklichkeit, die in der unwiederholbaren individuellen Reflexion des Künstlers zum gemalten Abbild seiner inneren Befindlichkeit geraten .
Annette Selles Malerei ist nonfigurativ. Die entworfenen Bildpläne sind keine dem Sichtbaren unmittelbar nachvollzogene Gegenstandskonstellationen oder Lebensräume. Alles Erzählerische oder gar Anekdotische bleiben ausgespart. Abbildhafte Objekt- oder figürliche Inszenierungen werden nicht beansprucht, um die existentielle Befindlichkeit zu reflektieren. Ihre sich im Malprozess langsam ausbildenden Kompositionen sind Spiegelungen seelischer Zustände und formierte Bündelungen ich-gebrochener Welterfahrung. Es geht nicht um die Darstellung gesehener Lebensräume. Vielmehr wird die erprobte Malerei selbst zum notwendigen Lebens- und Bewährungsraum. Gesucht wird nicht der eher zufällige Wirklichkeitsausschnitt, das bewegte Motiv, das sich von seiner schöntümelnden und anbiederischen Geste nicht befreien kann. Bei Annette Selle ist der Weg auch Ziel: Malerei als Gestaltungsprozess wird für sie zum unverzichtbaren Suchen und Finden einer als gültig empfundenen Formgestalt. Das endlich angenommene Bildmuster wird als kongruente Chiffre des schöpferischen und sich selbst bestätigenden Ichs erlebt.
Fraglos gründen sich die von Konturen gegliederten Bildkonstrukte auf eine Summe von Seherfahrungen, die als Substrat erlebter Außen- und Innenräume und fern von allem Imitativen sich zu autarken Bildtafeln befreien . Der bedeutende Alexander Camaro hat dies mit dem schönen Satz beschrieben: „Die Frage, ob die Imagination des Malers sich gegenständlich oder ungegenständlich darstellt, wird belanglos.“
In den frühen Bildern Annette Selles schien das räumliche Moment stärker bewahrt . Die atmete noch Tiefe und Bildformen schichteten sich in den Grund. Nächtliche Stadträume, auch Uferlandschaften taten sich auf und verzauberten den Betrachter. Heute ist das Flächige des Bildes mehr betont, seine eigene Ornamentik. Die Illusionierung von Raumtiefe wird zurückgenommen. Die Formgebilde scheinen gelegentlich zu schweben, imaginäre Kopfabstraktionen, Physiognomisches und Amorph-Biologisches tauchen auf aus geheimnisvoll versperrten Bildbehausungen. Eine warmtonige Graufläche kippt in den Grund und wird zum vagen Niemandsland , über das sich der Nachthimmel mit gelbem Leuchtpunkt wölbt. „ Nächtliche Leichtigkeit“, „ Musikalische Landschaft“ oder „ Atemnot“ öffnen dem Betrachter hinreichende Assoziationspotentiale und laden zum meditativen Zugang der Bilder ein.
In ihrem Bekenntnis zu den traditionellen Mitteln und der sinnlichen Kraft ist ihre Malerei konservativ.
Ihre Position erklärt sich in dem die Delacroixsche Maxime vom Bild als einem „Fest fürs Auge“ die eine noch nicht aufgegebene künstlerische Haltung beschreibt. Insofern ist ihr Weg frei von erfolgsheimschiger Marktanpassung. Ihre Malerei entzieht sich dem jetstream von Medienmix und Installationszirkus, von minimalistischer Leinwandleere oder hypertropher Streichbürstenartistik . Gegen die eilfertige Gefälligkeit gemalter Pusteblumen setzt sie auf Solidität und gediegene malerische Faktur, schafft Bildwerke von hoher Farbmagie und sensueller Faszination. Als Tor in die innere Welt des anderen kreativen Ichs geben sie dennoch nie ganz ihr Geheimnis auf.

Peter Michael Dinter, 2022

Ruhe und Gelassenheit, auch Tiefe und Schönheit, mal  auch Andacht und Transzendenz, das sind einige, zugegeben recht subjektive, vorn aufleuchtende, manches Mal auch sich verfestigende Eindrücke beim Betrachten der Bilder von Annette Selle. 

Gut gemachte Bilder, sie sollten uns berühren, besser noch  begeistern, sie liefern uns Denkstoff und sind gleichzeitig auch Exerpt menschlicher und kultureller Auseinandersetzung. Fantasievolle Bilder setzten bei uns Assoziationsketten in Gang,  können Entwicklungsspiegel unserer Zeit sein und in unserer Angelegenheit ganz konkret: Die zeitgenössische Malweise und Bildsprache von Frau Annette Selle. 

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Kosmopolitisch geprägt durch eine Vielzahl von Reisen und Erlebnissen, durch andere Kulturen, durch unterschiedlichste Landschafts und Klimazonen, von den bizarren europäischen Bergmassiven bis hin zu den abgelegensten Insellandschaften, hat die Malerin, die sich immer wieder auch mit Grafik und auch (Ton)skulptur auseinandersetzt, eine Vielzahl von Erfahrungen und Eindrücken in sich aufgesogen und dieses „schillernde gedankliche Lager“, es dient ihr fortan als Inspiration und Initiation für ihre Kunst. Es ist ihr Programm und Pflicht zugleich. Wohl auch um das Wesen eines schnellebigen „Großstadtmenschen“ zu relativieren (Frau Selle ist gebürtige Berlinerin) dann wieder zu brechen, um es vom Neuen zu erweitern.
Annette Selle hat sich bei ihren Studien und Beobachtungen Zeit genommen, sie hat ausgewertet und sublimiert, sicher dabei auch versucht „das Wesentliche“, vielleicht auch das Archetypische, in den Landschaften und den Menschen zu verdichteten. In machen Leinwandarbeiten kann sie das umsetzten über einen fließenden, mal auch abstrakten und strukturbetonten Kern. Wie Tafelschichten oder Flächen(körper) steigen dann ihre Bilderthemen aus dem seidigen, pastellfarbenen Bildergründen empor. Mal sind sie gebaut, ja mehr geschichtet, als Kollagen über pastos untermale Stoffbahnen. Getänkt voller schimmernder, mal auch mit puren Pigmenten angereicherter Ölfarbe. Anderen Ortes steigen ganze Spiralsysteme, überlagende Kreisflächen, mal auch punktierte Felder aus dem Bildraum empor und das vordergründig gesehene Bild scheint zu kippen, mal auch zu flirren, zu Gunsten einer Vielzahl miteinander korrespondierender Metabilder.
Energiegeladene gelbe Farben können in den Ölbildern von Annette Selle hell aufleuchten. Sie machen Spannung, wollen reizen, den zarten, mal auch dominaten Rottönen die Phalanx rauben und da wieder Ruhe und Einkehr. Versenkung über ultramarine und tiefblaue Gründe bei einem scheinbaren Verlust der grünen Komponenten? Doch grün ist in allem und schon stehen die ewigen Fragen nach einem „ Mehr“ oder nach Spiritualität im Raum. Diese Tür könnte jetzt geöffnet werden doch die Bilderwelten von Annette Selle, sie bleiben frei, sind irgendwie auch selbstlos, gemalt mit wenig Barock, befreit von Blendwerk und von falschem Pathos.
„Ein heiterer Spielraum des Seins“ klopft an die Tore unseres Verstandes und bringt uns den Menschen als Geistwesen zurück in den Sellischen Bildraum. Menschen, zumeist sind es bei Annette Selle Frauen, die uns sehr wohl auch als „endlich“ erscheinen, ihre Zeit haben und ihre Zeit auch formen. Schon werden sie von Frau Selle übermalt, mal weniger deutlich, bislang auch wage oder bis hin zur Unkenntlichkeit, scheinen sie zu transzendieren, weiter zu gehen, zurück in die Landschaft. In eine abstrakte, mal auch steinerne, immer jedoch belebte und uns gegenständlich erscheinende, sich ewig wandelnde Natur.

Auszug aus der Eröffnungsrede, Pritzwalk 2022

Christoph Poche

Annette Selle bearbeitet mit ihrer Kunst menschliche Universalien, auf einer grundlegenden und abstrakten Ebene der Kunst, nämlich der der Grund-Phänomene Farbe und Raum, und wenn es um Raum geht, ist indirekt immer auch die Zeit mit im Spiel.

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Dabei zelebriert Annette Selle in ihrer Malerei das Reduzieren illusionärer Landschaftsmalerei auf das Essentielle, auf die Projektion des dreidimensionalen Raumes in die Zwei-Dimensionalität der Bildfläche.

Die Farbe dient Annette Selle in ihren Landschaften vor allem als zutiefst emotionaler Stimmungsträger. Das wird überall dort deutlich, wo die Farbgebungen der Bildgegenstände von natürlichen Gegebenheiten abweichen, beim blauen Weg in der Arbeit „Die andere Seite“ zum Beispiel oder in „Am Horizont“, als würde in der Ferne oder untergründig im Boden ein Verhängnis lauern und uns bedrohen.
….
So, wie die fertigen Bilder die eigentümliche Kraft besitzen, den Betrachter anzuziehen und in Wahrnehmungserlebnisse zu verwickeln, spricht Annette Selle vom Herstellungsprozess als einer Auseinandersetzung, die sich über Wochen hinziehen kann und deren Ausgang ihr zwischenzeitlich völlig ungewiss erscheint, bis das jeweilige Bild in Progress sie selber packt und in Spannung versetzt, in dem der erreichte Zwischenzustand des Bildes sie mal zu sich zieht, mal zurückweist, und sie dadurch vorwärts treibt, bis die Spannungen sich schließlich ganz im Malprozess entäußert und im Bild aufgelöst und materialisiert haben.

Aus dem Eröffnungstext zur Ausstellung „Unmasked #1“ in der Galerie Aquabit, Berlin, 2021

Christoph Tannert

…Gleich im Eingangsbereich ziehen einen die großen blauen Bilder von Annette Selle an.
„Blue Memories“ und „Der Schwarm – blau“, beide in Öl auf Leinwand gemalt, stoßen Türen zu den Bereichen tieferer Empfindung auf. Die Künstlerin hat sich lange mit der Psychologie der Farbe beschäftigt und mit dem, was es ermöglicht, dass die Betrachtenden sich mit sich selbst konfrontiert sehen. Ihr Blau lässt eine Atmosphäre entstehen, die intensiv ist, aber unbestimmt in Bezug auf ihren ontologischen Status. So entsteht im Raum ein Gefühlston, der diejenigen treffen wird, die im psychologischen Sinn unmaskiert eintreten.

Katrin Bettina Müller, Galerie Tammen, 2014

Ich möchte die Einführung in die Malerei von Annette Selle gern mit dem Titel „In der Farbe wohnen“ überschreiben. Denn die Farbe ist für Annette Selle ein Material, aus dem sie eine eigene Welt baut und konstruiert. Behältnisse und Hüllen, Räume und verschachtelte Raumgefüge,  Flächen, Grundrisse und Lagepläne: All das lässt sich in großer Dichte bei ihr finden, angefangen von kleinen postkartengroßen Zeichnungen, über Arbeiten in Mischtechnik auf Papier, bis zu den großen Ölbildern.

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Farbe, kann man fast behaupten, taucht da immer in einer doppelten Funktion auf – einmal als Bild und einmal als Ding. Denn fast objekthaft ist der Charakter einzelner Bildelemente. Die Farbmasse ist in ihnen modelliert. Sie füllt nicht einfach eine Fläche und eine Form aus, sondern verleiht ihr Volumen und eine körperhafte Struktur. Die Farbe ist bei ihr weniger ein Mittel der Darstellung als vielmehr ein Material, um sich in das Innere der Dinge hineinzuversetzen und beinahe mimetisch bestimmte Eigenschaften nachzuahmen. Die Oberfläche ihrer Bilder ist durch eine reiche Textur gekennzeichnet, durch eine große Differenziertheit in der Beschaffenheit von Glanz und Rauheit, von Dichte und Durchlässigkeit, von trockenen und verfestigten Zuständen, von lockerem Geflecht und ornamentaler Pracht.
Wenn man in das Atelier der Malerin bei Ruhlsdorf, in eine große Halle auf dem flachen Feld kommt, fällt bald auf, wie sehr ihr Werk von einem Rhythmus getragen und gehalten wird. Was über einen Zeitraum von fünf Jahren entstanden ist, lässt von Bild zu Bild eine große  Kontinuität in der Entwicklung erkennen und eine stetige Weiterarbeit an der Transformation der Motive. Ohne Bruch spinnt sich dieser malerische Erzählstrom fort und in einer Ruhe, wie sie das Leben und die Welt außen nur sehr selten aufweisen. Die in den Bildern gebaute Bildwelt ist eine von großer Stille und Stärke: In ihr kann man Luftholen und die eigenen Reserven auftanken. Fast scheint es, als hätten sich die Bilder mit Landschaft außen verbündet, auch wenn ganz etwas anderes in ihnen zu sehen ist.

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